Einladung zur Weitsicht – Wie bekomme ich mehr innere Klarheit?

Veröffentlicht am: 01. Januar 2025

Mut zur Weitsicht

Eine Gastgeberin ist nur so gut wie ihre Stimmung, mit der sie ihre Gäste empfängt.

Eigentlich habe ich gerne Besuch, wenn er nicht gerade an einem Samstagvormittag unverhofft vor der Tür steht und ich in meinem Putz-Outfit mitten im Chaos stecke. Weil für mich zu einer guten Gastgeberin stets auch eine Einladung zu einem Kaffee oder Glas Wasser – und eine angemessene Zeitspanne - gehört, bringt mich ein Spontanbesuch unter den beschriebenen Umständen in einen inneren Zwiespalt. Doch glücklicherweise riechen empathisch veranlagte Spontanbesucher den Braten bereits, wenn sie beim Öffnen der Tür in mein verschrecktes (statt erfreutes) Gesicht und auf die zerschossenen Wohlfühlhosen blicken. Spätestens, wenn ich sie nicht hereinbitte, wird klar, dass im Hause Schmitt gerade Ausnahmezustand herrscht und lieber Rückzug angesagt ist. Vorläufig zumindest.

In diesem Punkt wäre ich gerne anders. Ich bewundere die herzerwärmende Gastfreundschaft, die ich aus meinen Studententrips in südeuropäischen Ländern erfahren durfte. Unvergessen: meine kühne jedoch orientierungslos endende Fahrradtour auf Korfu, wo ich von einer zerfurchten Griechin mit Kopftuch und arbeitsgebeugtem Rücken zu einem Tee und Ouzo gebeten wurde, um mich zu sammeln. Obwohl sich unsere fast einstündige Kommunikation auf dankbares Lächeln und Gesten beschränkt hatte, reicht dieses Bild seit Jahrzehnten aus, um mich schlecht zu fühlen, wenn ich Besucher nicht zu jeder Zeit mit offenen Armen empfangen möchte. Zugegeben, damals machte ich auf die Einheimische sicher einen äußerst bedürftigen bis bemitleidenswerten Anschein.

Somit korrigiere ich: meine Tür steht selbstverständlich weit offen, wenn sich eine Person in einem Ausnahmezustand befindet.

Doch es gibt auch ungebetene und extrem penetrante Gäste, die ich am liebsten so schnell wie möglich loswerden würde. Einer davon besuchte mich ausgerechnet über die Weihnachtsfeiertage: er sah mir beim Kochen über die Schulter, behinderte mich beim Schreiben der Grußkarten, saß im Auto neben mir, als ich zum Weihnachtsessen meiner Ursprungsfamilie fuhr. Er legte sich sogar mit mir ins Bett, um mich mitten in der Nacht mit einem fiesen Stupfen zu wecken.

Ich spreche von Kopfschmerzen.

Da ich dazu neige, Ursachenforschung zu betreiben, zermarterte ich mein beanspruchtes Hirn zusätzlich damit, was der Grund für dieses langanhaltende Übel sein könnte: „Brütete ich zum Jahresende doch noch einen Infekt aus? War es der Wein? Oder irgendein heimlicher Geschmacksverstärker im Restaurant-Menü? Zu viele menschliche oder feinstoffliche Reize? Die Hektik der Vorbereitungen, die ich wieder einmal nicht vermeiden konnte? Eine Folge von muskulären Schulter- Nacken-Verspannungen?“

Am dritten Tag dieses inneren Notstands – meine Leidensfähigkeit war allmählich einem Zustand der Verzweiflung gewichen – meldete sich auch noch ein innerer Dämon seit langem wieder zu Wort: „Was, wenn sich in meinem Kopf etwas Zerstörerisches eingenistet hat“?

Bevor mein hypochondrisches Ich zu sehr die Kontrolle übernehmen konnte, sagte ich: „Stopp – jetzt reicht´s!“

Mittels einer zeitweisen Betäubung fügte ich mich nun meiner prekären Lage und hoffte weiter auf Linderung.

Die Erlösung kam am vierten Tag - überraschend durch eine Einkaufsbegegnung: „Mein Sohn hat auch schon seit Tagen Kopfweh – das ist das Wetter!“

Obwohl ich mich als „wetterfühlig“ kenne, hatte ich es diesmal als Grund ausgeschlossen. Doch nun fiel mir auf: Seit Tagen war unser Kleinstädtchen in der Rheinebene von einer dicken feinstaubbelasteten Waber-Wolkenmasse überdeckt. Und gleichzeitig lechzten alle Fasern meines Körpers und meiner Seele nach Sonnenstrahlen und Vitamin D.

Urplötzlich hatte ich ein Ziel: ich setzte mich ins Auto und bewegte mich in Richtung Schwarzwaldhöhe - entgegen der Warnung meines Mannes vor den zu erwartenden Touristen- und Autolawinen.

Schon nach einer knappen halben Fahrstunde sah ich sanftes Blau durch die graue Decke blitzen. Wenige Zehnmeter später hatte ich endlich die Wolkengrenze erreicht. Ich fühlte mich wie beim Flugzeugstart. Ungeduldig drückte ich fester auf das Gaspedal.

Endlich! Als der erste Sonnenstrahl auf mein Gesicht traf, löste sich ein Atemzug tief aus meinem Körper, schienen sich meine Muskeln schlagartig zu lockern.

Kurze Zeit später schnaufte ich von der glücklich ergatterten Parklücke mit meinen locker geschnürten Wanderstiefeln den vereisten Weg hinauf. Ohne zu bemerken, dass ich meinen ungeliebten Besucher im Tal zurückgelassen hatte, wurde mein Blick von dem faszinierenden Wolkenmeer-Panorama in Bann gezogen. Die etwas tiefer liegenden Hügel schienen wie einsame Inseln.

Ich verließ den Weg und kletterte auf einen Felsen, von dem ich mich erst wieder löste, als die Sonne ganz weit hinter der sanften Bergsilhouette am Horizont verschwunden war. Nur vage realisierte ich erst beim Abstieg die unzähligen anderen Bewunderer dieses Naturschauspiels.

Wie gut, dass ich mich aufgerafft hatte: dieser Weitblick hatte mir seit Wochen gefehlt, ohne es bewusst zu ahnen.

Er war viel mehr als nur der Genuss einer traumhaften Landschaft: Mein Kopf erfüllte sich in diesem Moment mit einer schier vergessenen Klarheit. Gleichzeitig bahnte sich eine verborgene Freude euphorisch ihren Weg nach draußen.

Urplötzlich fühlte ich mich befreit – nicht nur von den Schmerzen und trüben Gedankenkreiseln, sondern vor allem OFFEN für vergessene Sehnsüchte, verdrängte Bedürfnisse und neue Impulse.

Der Adlerblick über das riesige Rheintal hatte dafür gesorgt, dass ich mein Alltagsleben, das in letzter Zeit durch viele Pflichten und unnütze Sorgen unangenehm eng geworden war, endlich wieder in vollem Bewusstsein überblicken konnte.

Gleichzeitig drängten sich Fragen auf, die ich mir schon viel zu lang nicht mehr gestellt hatte:

Zurück im abendlichen Tal stellte ich fest, wie viel zufriedener und ruhiger ich mich im Vergleich zum Vormittag fühlte. Und: Mein unerwünschter Besuch war längst abgereist.