Veröffentlicht am: 02. Februar 2025
Samstagabend, 20 Uhr Leider ist mir in meinem samstäglichen Aktivitätenwahn entgangen, dass das begehrte Fußballspiel heute zur besten Familienzeit gestreamt wird und damit meine Chance auf einen gemeinsamen Filmabend unweigerlich erloschen ist. Zimmer- und Kühlschranktüren öffnen und schließen sich hektisch. Die verbale Taktzahl zwischen meinen drei Männern erhöht sich innerhalb einer Viertelstunde schlagartig und erreicht im Vergleich zu den Gesprächen beim Mittagessen den Höhepunkt des Tages. Ich höre lautstarke einleitende Kommentare und die üblichen Geräusche, die nur in aufgeheizten Massen euphorischer Ballfanatiker vorkommen. Meine Mitbewohner lassen nun definitiv keinen Zweifel mehr daran, dass ich besser keine Anliegen und noch weniger nervige Fragen in den Raum stellen sollte, ohne genervte Gegenwehr zu riskieren. Während früher zumindest noch der Teller mit liebevoll hergerichteten Apfelspalten und Schälchen mit Chips Anklang fanden, ist heute unmissverständlich klar: Meine Anwesenheit ist nicht nur unerwünscht, sondern eine absolute Grenzüberschreitung.
Ich spüre dieses bekannte Gefühl aufkommen, das sich aus dem Magen heraus als Ärger formt und nun im Herzbereich mit einem kleinen Stich endet. Ja, ich fühle mich ausgeschlossen und ignoriert. Unfähig mich zu wehren. Traurig und bedürftig. Doch - Stopp! Nach wenigen Sekunden habe ich wieder in Erinnerung gerufen, dass diese Emotion ein Missverständnis meines Systems ist, nur eine alte Gewohnheit meines Körpers.
Was heißt eigentlich bedürftig sein? Unschwer erkennbar steckt darin Bedarf und ein Bedürfnis oder mehrere Bedürfnisse haben. Dass jeder Mensch Bedürfnisse hat, ist sicherlich keine Neuigkeit. Doch gelten wir deswegen alle als bedürftig?
Tauchen wir ein klein wenig in die Welt der Psychologie ein. Meistens erscheinen in diesem Zusammenhang die Namen Grawe und Maslow. Nach Abraham Maslow (1908-1970), einem der einflussreichsten Psychologen des 20. Jahrhunderts und Begründer der humanistischen Psychologie, hat jedes Individuum Grundbedürfnisse, die innerhalb einer Person, je nach individuellen Voraussetzungen, in verschiedenen Phasen unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Die Bedürfnispyramide nach Maslow (siehe: Bedürfnispyramide nach Maslow ) dürfte vielen ein Begriff sein.
Maslow beschreibt damit auf vereinfachende Art und Weise menschliche Bedürfnisse und Motivationen und versucht, diese anhand einer Pyramide zu erklären.
Was bedeutet das?
Unzureichend befriedigte Bedürfnisse können wir über einen begrenzten Zeitraum ausgleichen. Werden jedoch über längere Zeit bestimmte Bedürfnisse grundsätzlich verdrängt oder negiert, kann ein Ungleichgewicht entstehen. Wir sind dann eventuell nicht mehr fähig, auf unsere Resilienz zuzugreifen, also flexibel und möglichst günstig mit Stress und psychischen Herausforderungen umzugehen. Auch Strategien, die jahrelang funktioniert haben, fruchten dann plötzlich nicht mehr.
Vielleicht waren unsere bisherigen Strategien z. B. Ablenkung durch Arbeit, exzessiver Sport, Netflixen, Social Media-Konsum, Betäubung durch Alkohol, Schlafmittel oder andere suchtmachende Substanzen.
Viele kennen das: Wir folgen dem Bedürfnis, uns von den Anstrengungen des Tages zu lösen und zu entspannen. Auf der Couch belohnen wir uns mit der neuesten Folge einer Streamingserie und einem Bierchen oder einem Glas Rotwein, weil wir in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht haben, dass der Alkohol unser körperliches und auch mentales System leichter herunterfahren lässt.
Hin und wieder haben wir gespürt, dass unsere Gedanken umso lauter werden, je leiser und reizärmer es im Wohnzimmer wird. Und dass damit oftmals auch Gefühle hochgespült werden, die sich unangenehm anfühlen. Um das zu verhindern, schlummern wir Schluck für Schluck sanft aus der Realität, bis die nötige Bettschwere erreicht ist. „Wegbeamen und Streamen“.
Es spricht nicht viel gegen ein gelegentliches Glas Wein und die aktuelle Staffel unseres Serienhighlights. Doch gilt hier: Die Dosis macht das Gift. Und Alkohol und starke Reize können den Schlaf ungünstig beeinträchtigen.
Fakt ist: Je weniger du dich ablenkst, umso mehr stellen sich unangenehme Gefühle ein, die verunsichern und am liebsten weggedrückt werden wollen. In schwierigen Lebensphasen werden diese Stimmen meistens lauter und lauter, bis sie irgendwann nicht mehr überhört werden können, weil sie sich bereits in körperlichen Symptomen wie innere Unruhe, kribbelnden Händen oder wiederkehrenden Kopfschmerzen (aufgrund von Nackenverspannungen) zeigen.
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich in der härtesten Phase meiner Angststörungen und Depression weder die nötige Konzentration für einen Film oder ein Buch als entspannte Alternative aufbrachte, noch in der Lage war, ruhig auf dem Sofa zu sitzen. Ich konnte und wollte erst recht keine Nachrichten schauen, geschweige denn die schnellen und schlimmen Bilder seelisch verdauen. An manchen Abenden wollte ich einfach nur irgendwie in den Schlaf kommen.
Vor allem am Abend, wenn der Körper erschöpft und der Geist müde ist, werden wir vermehrt von unseren „inneren Dämonen“ heimgesucht.
Meine Mutter hatte dazu ihren Standardspruch: „Am nächsten Morgen sieht alles wieder besser aus.“ Sehr oft behielt sie tatsächlich recht: Meistens war ich am Morgen wieder klarer und frischer im Kopf und vor allem zuversichtlicher.
Doch manchmal bleibt das ein sehnsüchtiger Wunsch: Vor allem Personen in einer schweren depressiven Phase berichten von dem sogenannten Morgentief, in dem sie ihre Antriebslosigkeit kaum aus dem Bett kommen lässt.
Meine Depression war „nur“ als mittelgradig eingestuft und dennoch blieb der Spruch meiner Mutter in meiner dunkelsten Phase wirkungslos. Pünktlich zur Schlafenszeit hatte ich nämlich das Gefühl, als würden tausend Ameisen durch meine Gliedmaßen krabbeln. Oder als tauchten vor meinen inneren Augen immer wieder Blitze auf. Meine innere Unruhe und Gedankenkarusselle hatten mich voll im Griff.
Was ich mittlerweile gelernt habe:
Oftmals zeigen sich bei den wiederkehrenden Dämonen „alte“ und somit „kindliche Bedürfnisse“.
Auch bei mir lässt sich aus der eingangs beschriebenen Situation ein „altes Bedürfnis“ ableiten: Als jüngstes von vier Geschwisterkindern wollte ich immer besonders „gesehen“ werden, doch allzu oft fielen meine Bedürfnisse zugunsten der „Großen“ und unserem turbulenten Familienalltag zum Opfer. Am Mittagstisch lernte ich, gut zuzuhören, während sich die anderen in ihrem Meinungsgefecht schier überschlugen. Oder ich hechelte bei Radtouren meinen ausgewachsenen Geschwistern auf meinem kleinen Kinderfahrrad hinterher. Heute sehe ich die daraus gewonnenen Kompetenzen, gut zuzuhören und zwischen den Zeilen zu lesen, als eine große Gabe an. Und meine körperliche Fitness profitiert sicher auch noch in meinem fortgeschrittenen Alter davon. Der Nachteil: Ich hatte mich schon sehr früh in Anpassung geübt.
In meiner therapeutischen Arbeit stelle ich immer wieder fest: Diese Eigenschaft teile ich mit unfassbar vielen Kindern und Erwachsenen, die als jüngstes Kind in einer Großfamilie geboren wurden oder deren Eltern viel zu sehr anderweitig mit sich selbst, ihren (unglücklichen) Partnerschaften oder ihrem herausfordernden Leben beschäftigt waren und sind.
Mein erwachsenes Verstandes-Ich kennt die Gründe, wieso meine Männer manchmal einfach keine Lust haben, mich in ihre Themen einzuweihen, die mich – zugegeben - in der Tiefe oft gar nicht so sehr interessieren, und dadurch nervige Fragen zu riskieren. Mein kindliches Ich fühlt sich jedoch in diesen Momenten bedürftig, nicht gesehen und unglücklich.
Wie gehe ich heute mit solchen Situationen um?
Mit achtsamer Selbstfürsorge: Die erworbene Fähigkeit, dass ich mich selbst in diesen Momenten beobachten und die längst verjährten kindlichen Bedürfnisse aufspüren kann, bevor sie mich einnehmen können, ist für mich von unschätzbarem Wert.
Mittlerweile nutze ich die daraus entstandenen Vorteile ganz bewusst: Während meine Mitbewohner sich lautstark über den verschossenen Freistoß empören, zelebriere ich den Abend auf meine ganz eigene – weibliche – Art: mit meiner gefüllten Lieblingsteetasse oder der alkoholfreien Variante meiner bevorzugten Sektmarke, einem Buch, „Cinemax“ auf den Ohren, Pastellkreiden und meinem Maltagebuch. Es lebe die Bedürftigkeit!
Welche Alternativen kennst du zum „Wegbeamen und Streamen“? Keine Idee? Dann unternimm doch einmal einen Exkurs in deine Kindheit. Was hast du als Kind oder Jugendliche/r gerne getan? Mit welcher Aktivität, welchem Hobby hast du dich in einen Flow-Zustand gebracht und die Zeit vergessen?
Resilienz (von lateinisch resilire: zurückspringen, abprallen, nicht anhaften), auch Anpassungsfähigkeit, ist der Prozess, in dem Personen auf Probleme und Veränderungen mit Anpassung ihres Verhaltens reagieren. (Quelle: Wikipedia)
Quelle: Wikipedia: Resilienz (Psychologie)
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