Reif für die Insel - Welche Vorteile hat eine Auszeit alleine?

Veröffentlicht am: 08. März 2025

Insel Spiegeroog

Ich stehe am durchfeuchteten Nordseestrand, starre gebannt in die Wellen der aufkommenden Flut. Mindestens eine Stunde lang bin ich mit angespannten Beinmuskeln durch den Sand gestapft und spüre dennoch keinerlei Erschöpfung. Wieder einmal lässt mich die tosende Macht der Natur mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Dankbarkeit staunen. Ich bin so sehr energetisiert, dass ich nicht einmal spüre, wie eiskaltes Wasser in meine Stofflaufschuhe wabert. Selbst der Hauch eines schlechten Gewissens, das mich oft bei den ersten Malen meiner Solo-Auszeiten in solchen überwältigenden Momenten eingeholt hat, ist diesmal still.

Mittlerweile ist meine Familie offenbar daran gewöhnt, dass ich hin und wieder für ein paar Tage ohne sie verreise und hat zunehmend Vertrauen gefasst. Meine Mitbewohner haben dabei zwei Dinge erfahren dürfen:

Erstens - ich komme nach solch einer Kurz-Flucht vom Alltag tatsächlich wieder zu ihnen zurück

und zweitens - nach meiner Rückkehr in den Schoß der Familie bin ich ausnahmslos zufriedener und fröhlicher.

Eine Solo-Auszeit als Gewinn für beide Seiten

Es scheint sogar, als hätten meine Männer dies allmählich als Win-Win-Situation erkannt: Entspannte Ehefrau und Mutter bedeutet gleichzeitig mehr Leichtigkeit in der innerfamiliären Routine und wieder mehr Lachen im Haus. Und ein paar Männerabende ohne die weibliche und verständnislose Gesichtsmimik, in Anbetracht des dritten Fußballabends hintereinander, kann auch entlastend sein.

Ich bin schon seit meiner Jugend gerne alleine verreist - habe mich von Jahr zu Jahr weiter darin bestärkt: von den “betreuten Reisen” für den Fremdsprachenzuwachs, über Studentenpraktika im europäischen Ausland, bis zu Kleingruppenreisen in den südamerikanischen Dschungel. Später unternahm ich Spontanbesuche bei Bekannten, die irgendwo in Europa einen Auslandsjob absolvierten.

Somit wurde ich immer geübter darin, Momente der Einsamkeit auszuhalten bzw. mir Strategien anzueignen, um diese zu überstehen. Und überstanden habe ich derartige Gefühlswallungen definitiv. Sehr gut sogar. Mit wachsendem Mut. Dazu muss ich erwähnen, dass ich damals weder Ehemann noch eigene Kinder hatte.

Die Reisesehnsucht war größer als die Anstrengung, mit Einsamkeit umgehen zu müssen

Irgendwann in den Neunzigern fühlte sich das Alleine-in-den-Urlaub-fahren plötzlich gar nicht gut an. Ich hatte die Trennung nach einer Beziehung zu verarbeiten, die ich heutzutage als toxisch bezeichnen würde… Damals bin ich für vierzehn Tage auf eine griechische Insel geflüchtet - vor der Demütigung, vor der belastenden Situation und vor allem: vor mir selbst. Dass es ein Trugschluss war, vor mir abhauen zu wollen, erfuhr ich schon am ersten Abend im Hotelzimmer, an dem ich nicht mehr unterscheiden konnte, ob die Feuchtigkeit auf meinen Lippen der Rotwein oder meine Tränen waren…

Ja, ich spürte meine Verzweiflung bis ins Mark - und habe viel geweint.

Ja, ich habe mich anfänglich unter Fremden unfassbar verlassen gefühlt - und hatte dieses schier unerträgliche schmerzhafte Ziehen in meinem Herzen.

Ja, mich plagten furchtbare Selbstzweifel und die Angst, dass ich niemanden mehr finden würde, der mich lieben könnte, mit all meinen Unwägbarkeiten.

Und ich hatte Sorge, dass ich auf andere egoistisch, erbärmlich, eigenbrötlerisch oder wie ein Alien wirken könnte, wenn ich alleine am Frühstückstisch eines Familienhotels sitze.

Ja, all diese Gefühle waren definitiv da - doch im Laufe der Tage unter der griechischen Sonne stellte ich fest, dass sie nur ein Teil des Gesamtpakets waren.

Unangenehme Gefühle sind nur ein Teil des Reisepakets. Der andere ist eine überbordende Lebendigkeit!

Der andere Teil war ein unbändiges Gefühl an Freiheit, wenn ich gleich nach dem Aufwachen am Strand entlangjoggen und dann halbnackt ins Meer hüpfen konnte - ohne mich dafür erklären oder rechtfertigen zu müssen. Ich erlebte ein zart aufflammendes Glück, einen Zauber des Anfangs, einen viel achtsameren Umgang mit mir selbst und die wachsende Offenheit und Neugier gegenüber fremden Personen und Eindrücken. Es gab gigantische Erfahrungen mit der Natur (zugegeben: die ich gerne mit jemandem geteilt hätte – damals gab es noch keine Live-Videooption per Smartphone), überraschend tiefgehende und sehr bereichernde Gespräche mit Menschen, die plötzlich gar nicht mehr fremd waren. Es formte sich eine geballte Ladung an Endorphinen und süchtig machender Lebensfreude.

Diese Offenbarung prägt mich bis heute

Einige Jahre später, als ich längst Mutter von kleinen Kindern und langjährige Ehefrau war, kamen diese Erinnerungen als riesig große Sehnsucht wieder. So stark, dass es manchmal weh tat: Obwohl ich bis heute wundervolle Urlaube mit meiner Familie erlebe, wollte ich endlich wieder ganz alleine verreisen, nach meinen ureigenen Bedürfnissen entscheiden dürfen, wohin ich fahre, wie ich wohne, was ich essen und erleben will. Mich plagten Gewissensbisse.

Es hat mehrere Anläufe - in Form von “wichtigen” Fortbildungen und Wochenendseminaren - gebraucht, bis ich den Mut hatte, vor meinem verständnislos-irritierten Umfeld für diese Sehnsucht einzustehen.

“Was, du fährst echt GANZ ALLEINE? Und was sagt dein Mann dazu? Kommen deine Kinder ohne dich klar?”

JA - ich verreise gerne alleine, zumindest für bis zu vier Tage, es sei denn, ich habe ein neues Projekt im Kopf, für das ich mir bewusst mehr Zeit zum Schreiben oder Brainstormen nehmen möchte. Und meine Mitbewohner kommen gut ohne mich klar. In einer kleinen Frühstückpension am Bodensee schrieb ich mehrere Kapitel meines Buches, fand in einer kleinen Südtiroler Almhütte wieder zu mehr innerer Stärke und bei einem Klosterwochenende zu mehr Vertrauen in eine innere Führung.

Zurück zu meinen nassen Füßen und meinen aerosolgefüllten Lungen im Nordsee-Watt: Diesmal bin ich hier, weil ich zuvor zwei Wochen lang von einem Infekt niedergedrückt war. Zudem hatte sich in mir eine Riesenmenge an Denkstoff beruflicher und persönlicher Art mit zunehmendem Leidensdruck angesammelt, was es zu überblicken und zu sortieren galt. Doch vor allem wollte ich endlich wieder klar denken können, mit Abstand auf mein Leben schauen, die Dinge emotional gerade rücken… und dafür war klar: ich MUSS alleine sein, um ausreichend in mich horchen und meine aktuellen Bedürfnisse wahrnehmen zu können. Ich wollte meinen Intuitionen folgen, essen und schlafen, was, wann und wieviel ich möchte. Ich brauchte Abstand vom bekannten Umfeld, auch um mich auf neue inspirierende Begegnungen einlassen zu können - ohne sexuelle Hintergedanken oder auf der Suche nach einem extraordinären emotionalen Highlight.

Ich wollte einfach endlich wieder nur SEIN - ICH SELBST sein

Doch sehr viele verstehen das nicht.

Im Laufe der letzten Jahre habe ich festgestellt, dass die Zahl an Menschen, die alleine abends an Restauranttischen sitzen und dabei nicht beschämt in ihrem Essen herumstochern, zugenommen hat. Reiseveranstalter haben vermehrt Solo-Reisende im Blick. Einige probieren sich aus und schließen sich neigungsgeprägten Events an oder buchen Gruppenreisen - Unabhängigkeit light sozusagen, mit Sicherheitsbackup für zu erwartende unangenehme Emotionen.

Städtereisen mit meinem Partner und Freunden oder ein Wellness-Retreat finde ich toll - unter entsprechend entspannten Umständen. Doch sie sind für mich nicht sinnvoll, wenn mir der Alltag wieder über den Kopf gewachsen ist oder ich die Signale meines Körpers zu lange ignoriert habe. Denn bei Reisen mit anderen liegt der Fokus hauptsächlich wieder im Außen, in Reizen, auf anderen Meinungen und vermeintlichen Verpflichtungen. All das lenkt mich von mir selbst und meinem innersten Seelen- und Gemütszustand ab.

Solo-Reisende sind keine eigenbrötlerischen Eremiten!

Nein, wenn ich alleine verreise, verhalte ich mich keineswegs als Eremit. Meine Erfahrungen geben mir immer wieder recht: ich bin viel offener für Begegnungen, die sich vermeintlich zufällig mit einer Tischnachbarin oder in einem Kirchenkonzert ergeben. Nicht selten kommen überraschend Menschen auf mich zu und suchen das Gespräch, was mir schon auf magische Weise zum nächsten Lösungsschritt in einem akuten Problem verholfen hat. War das “nur” eine glückliche Fügung?

Kürzlich lernte ich in der leeren Hotelsauna eine erfolgreiche Künstlerin in Bademantel kennen, die ihre faszinierenden Holzskulpturen bereits in verschiedensten Kontinenten ausgestellt hat. Wäre ich mit ihr ins Gespräch gekommen, wenn ich mit meinem Mann oder einer Freundin dort gesessen wäre?

Ich habe mir schnell abgewöhnt, mich in einem vollen Restaurant durch bemitleidende Blicke von umliegenden Pärchen verunsichern zu lassen. Im Gegenteil, manchmal erfüllt es mich mit glücklichem Stolz, vor einem ästhetisch gestylten Gemüseteller und einem Glas Weißwein oder alkoholfreiem Bier sitzen zu können, den Geschmacksmoment dabei in vollen Zügen zu genießen und “Sozialstudien” an sich anschweigenden Paaren vorzunehmen.

Nach solchen Erlebnissen lege ich mich am Abend mit ungläubigem Kopfschütteln und mit einem inneren Lächeln in mein Einzelzimmerbett.

Was sind mögliche Hinderungsgründe für eine individuelle Auszeit?

Warum fällt es den meisten - Frauen und Männern gleichermaßen - so schwer, alleine ihre Koffer zu packen?

Was hält sie zurück?

Die Sorge, was die anderen daheim denken könnten? Dass man für egoistisch gehalten werden könnte?

Oder ist es die Fehlannahme von Bekannten, dass man sicher auf der Suche nach einem prickelnden Abenteuer mit einem Fremden sei?

Das schlechte Gewissen, weil man das den Daheimgebliebenen auch gerne gönnen würde? Oder dass man sich vielleicht einen Teil des Familienbudgets für diesen Solotrip einverleibt?

Die gefürchtete Einsamkeit unter unbekannten Menschen?

Die Angst, dass etwas Schlimmes passieren könnte?

Oder vielleicht die Furcht vor unangenehmen Gefühlen, die aufpoppen könnten?

Die vermeintlichen Grenzen sind vielfältig – doch meistens nur in unserem Kopf

Hier möchte ich Mut machen. Die meisten Bedenken lassen sich durch einige Vorteile entkräften, die eine individuelle Auszeit mit sich bringt:

  1. 1. Ungekannte Lebendigkeit durch eine Palette unterschiedlichster Gefühle – die auch außerhalb des häuslichen Umfelds ihr Ventil finden und dadurch kompensiert werden können, z.B. mit einem Spaziergang durch ein unbekanntes Wäldchen oder dem zufälligen Reinplatzen in eine Kunstvernissage.
  2. 2. Neue Impulse durch unbekannte Menschen und Sichtweisen – wie oft öffnen wir uns in unserem Alltag Andersdenkenden mit ungeahnt spannenden Biographien? Auch ein einheimischer Teenager mit zwei Nasenpiercings kann uns interessante und nachhaltige Sichtweisen aufzeigen, wenn wir uns ihm öffnen.
  3. 3. Ungeahnte Erkenntnisse und unverhoffte Lösungsansätze – manchmal stecken wir gemeinsam mit unseren Mitbewohnern in einem Tunnel ohne sichtbare Ausgänge fest. Fremde Menschen haben vielleicht ähnliche Probleme und schon den entscheidenden Ausgang entdeckt? Die meisten reden sehr gerne offen über ihre bewältigten Schwierigkeiten.
  4. 4. Wachsendes Selbstbewusstsein und steigender Selbstwert - durch den Mut und Bestätigung, aus der Komfortzone herausgetreten zu sein.
  5. 5. Modellhafte Win-Win-Situation für das Umfeld - die Chance ist hoch, dass die Familienmitglieder in unserer Abwesenheit wider Erwarten neue Erkenntnisse und Erfahrungen machen und sich irgendwann ebenfalls auf die Suche nach sich selbst begeben, wovon wiederum auch wir profitieren und mit insgesamt besserer Grundstimmung belohnt werden könnten.
  6. 6. Neue Themen für interessanten Gesprächsstoff am Familientisch – oftmals drehen wir uns um die immergleichen Themen: Haushalt, Arbeit, Politik, Schule usw. Wie abwechslungsreich wäre es z.B., von einem traumhaften Sonnenuntergang über den Dünen berichten zu können oder von einem Menschen, der mit seinem Job bereits die Welt ein wenig reicher gemacht hat und als Inspiration dienen könnte? Oder von einem Lebensmodell als Ehepaar auf „digitaler Nomaden-Tour“?

Notfalls genügt zunächst auch eine Mini-Auszeit im Alltag

Für all diejenigen Leserinnen oder Leser, die aufgrund von Kleinkindern oder pflegebedürftigen Angehörigen keinerlei Möglichkeiten für eine längere Auszeit sehen… Meine Strategie als Vollzeit-Mama mit eigenem Haushalt war damals: mit klitzekleinen Auszeitnischen anfangen, z.B. eine Kaffeepause auf den Treppenstufen vor der Haustüre, ohne Smartphone in der Hand, anstatt schnell mal zwischendurch am Esstisch. Oder den Wecker eine halbe Stunde früher stellen, um den “miracle morning” zu zelebrieren und den erwachenden Vögeln zuzuhören. Oder sich eine Massagestunde im Heimatort gönnen, während die Kinder im Kindergarten sind. Oder mal mit dem Rad zur Arbeitsstelle fahren und auf dem Rückweg einen Umweg über die nächste Bank an einem einsamen Ententeich einplanen. Und die Füße bewusst auf dem Boden spüren – wenigstens für eine kleine Minute dürfte das drin sein.

Die Stimme des schlechten Gewissens wird bei jedem Mal leiser, sobald alle Beteiligten die Vorzüge erkannt haben, die ich soeben beschrieben habe.

Wir dürfen uns auf unsere Intuition einlassen und lernen, ihr zu folgen

Was hat mir nun diese jüngste Auszeit auf der Insel gebracht? Was habe ich diesmal Neues oder vernachlässigtes Bekanntes über mich und meine Bedürfnisse erfahren dürfen?

Folgende (teils vergessenen) Aha-Erlebnisse möchte ich hier teilen:

Ich schreibe und fotografiere gerne bewusst, teile meine Eindrücke mit Gleichgesinnten und schäme mich gleichzeitig, weil ich eigentlich “digital detox” machen möchte.

Ich liebe es, meinen Körper bewegen zu spüren, zu laufen, bei Wind und Wetter, bis meine belastenden Gedanken aus dem Kopf geblasen sind.

Ich sauge die Natur mit all ihren imposanten Erscheinungen auf und lass mich von der Begeisterung euphorisieren.

Ich bin kommunikativ und mag freundliche und empathische Menschen.

Und da war und ist noch vieles mehr.

Meine größte Bestätigung bekam ich – nicht zum ersten Mal - in diesem Punkt:

Ich darf meiner inneren Führung und Intuition vertrauen. Sie bringt mich in die richtige Richtung und an den Ort, der genau zu mir passt, und zu einem Lösungsansatz, der jetzt im Moment der richtige für mich ist. Ich habe alles in mir, was ich dazu benötige.

Du darfst das übrigens auch.

Und noch etwas habe ich gelernt: Selbst wenn ich unterwegs mal nasse und kalte Füße bekomme, und ich deswegen nicht gleich wieder umdrehe, um mich ins Trockene zu flüchten, wird mir nichts Unangenehmes geschehen, außer vielleicht ein Quäntchen mehr an Magie und Lebensfreude.

Wenn Du die Geschichte hinter meinem Gesicht erfahren möchtest: "Wer leben will, muss fühlen"