pexels manjose 9827 Kunsttherapie und Psychotherapie (nach dem Heilpraktikergesetz)

Oktoberfest und Hochsensibilität – Highlight oder Horror?

Quietschende Fahrgeschäfte, blinkende Leuchtreklamen, Menschenmassen und Stimmengemurmel, dazwischen Gegröle und ohrenbetäubende Ballermann-Musik. Schwitzende und in Leder gekleidete Körper drängen sich, Fett- und Biergeruch mischen sich mit parfümgeschwängerter Luft…

Unvermittelt drängen sich mir drei Wörter mit demselben Anfangsbuchstaben auf:

H wie „Highlight des Jahres“, H wie „Horror“ und H wie „Hochsensibilität“? Was hat das Oktoberfest damit zu tun?

Was ab spätestens Ende September bei vielen akute Glücksgefühle auslöst, weckt in mir regelmäßig ein inneres Seufzen.
Das liegt weder an den erhöhten Bierpreisen noch an agoraphobischen Ängsten und noch weniger daran, dass ich kein geselliger Mensch wäre – ganz im Gegenteil.

Ich liebe lebhafte Feste, Rockkonzerte, Stadionbesuche mit meinen Männern und besonders: Menschen. Erst recht, wenn sie freundliche und angenehme Zeitgenossen sind. Doch seit ich mit 47 Jahren erkannte, dass ich mich zu den sog. „HSPs“ („High Sensitive Persons“) zählen kann, meide ich Massenveranstaltungen. Oder ich gönne mir davon eine kleine Dosis, wenn ich am Tag darauf ausreichend Zeit und Ruhe habe, um mich davon zu erholen. Das ist reine Selbstfürsorge.

Was für Feierlaunige sicher als Einschränkung bewertet wird, bedeutet für mich eine große Befreiung. Denn endlich weiß ich, wieso ich an großen Geburtstagsfeten in der Vergangenheit, Shopping-Mammuttagen oder kaffeefahrtähnlichen Touristenbesichtigungen am liebsten die Flucht ergriffen hätte und mich „irgendwie falsch“ und abgegrenzt von meinen Begleitpersonen fühlte.

Wieso mich scheinbar normale Konflikte zwischen meinen Lieblingsmenschen so aus der Bahn geworfen haben.

Weshalb mich die unbedachte Äußerung eines Kollegen durch tagelanges Grübeln darüber immer wieder selbst auslaugte und mir für meine Alltagsaufgaben den Energiestecker zog.

Das „Phänomen Hochsensibilität“ ist mittlerweile in der Gesellschaft angekommen und wird zunehmend als „Wesensmerkmal“ oder „Persönlichkeitseigenschaft“ anerkannt, das bis in die Kindheit zurück reicht. Immerhin zählen 20 bis 30 % der Bevölkerung dazu.

Die amerikanische Psychologin Elaine Aron* legte 1997 die Basis für eine nähere Auseinandersetzung mit dem Phänomen und erstellte ein Interview aus 27 Fragen. Dieses dient noch heute als Selbsttest-Instrument, das auf vielen verschiedenen Internetseiten und in mehreren Sprachen abgerufen werden kann (z.B. https://hsperson.com/). Mittlerweile hat man festgestellt, dass vermehrt Künstler oder Musiker, auch prominente, unter den HSPs anzusiedeln sind*.

Hochsensibilität ist keine psychische Erkrankung, dennoch wird sie häufig im Zusammenhang mit einem Erschöpfungssyndrom oder der Diagnose einer Angststörung oder Sozialen Phobie entdeckt.

Kein Wunder, denn HSPs neigen dazu, äußere Reize viel intensiver wahrzunehmen und gleichzeitig schlechter und länger zu verarbeiten. Man spricht davon, dass hochsensiblen oder feinfühligen Menschen eine Art „Filter im Kopf“* fehle und dass oftmals ein Wahrnehmungskanal stärker ausgeprägt sei als ein anderer.

Bei mir ist es der akustische: Wenn ich z.B. vor einer Schulklasse stehe und eine Schülerin mir aus der ersten Reihe einen Satz zuwirft und gleichzeitig in der letzten Reihe eine andere in ihrem Mäppchen raschelt, verstehe ich meist nicht, was das Mädchen aus der ersten Reihe von mir möchte. Die Rückfragen sind mir oft peinlich. In Zügen schirme ich mich durch Kopfhörer von Gesprächen – auf der anderen Seite des Waggons – ab, um mich auf mein Buch zu konzentrieren. Alle Geräusche scheinen dieselbe Lautstärke zu haben, egal, wie weit sie von mir weg sind.

Was Hochsensible dabei auslaugt, ist ein ZU VIEL davon:

Zu viel Krach, Stress, Druck, Menschen, Konflikte, Entscheidungen, Handykonsum, zu viel nährstoffarmes Essen… und gleichzeitig ist es ein ZU WENIG:

Zu wenig Schlaf, zu wenig ungeteilte Zeit und Ruhe zum Atemlauschen, Füße spüren, Gedanken sortieren, Bäume studieren, Katze streicheln, Malen, Musizieren…

Es stimmt: Hochsensible brauchen ausreichend Zeit, am besten alleine, um alle Eindrücke sauber zu verarbeiten und in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. Erst dann ist ihr Nervensystem in der Lage, sich wieder neuen Dingen zuzuwenden. Dabei fühlen sie sich keineswegs einsam, sondern tanken auf.

Die meisten HSPs sind gerne allein, brauchen gleichzeitig aber auch immer wieder die Nähe zu empathischen Menschen, mit denen sie tiefe Gespräche führen können. Gruppen und oberflächlicher Small-Talk können sie zwar bewältigen, empfinden das jedoch oft als lästig bis grauenvoll.

Aus diesem Grund sitze ich an einem „goldenen Oktobertag“ lieber eingemummelt in einem kleinen Straßencafé – und nicht im Bierzelt -, trinke einen Cappuccino, schreibe, lese oder beobachte das Menschentreiben in gelassener Ruhe – von außen.

*Textquellen:

https://www.psychologie-heute.de/gesundheit/artikel-detailansicht/42259-hochsensibilitaet.html

https://www.spektrum.de/news/hochsensibilitaet-der-streit-um-die-feinfuehligkeit/1412989

https://hsp-academy.de/hochsensible-kuenstler-saenger-maler-spirituelle-kunst

https://www.tagesschau.de/wissen/gesundheit/hochsensibilitaet-101.html

Bildquelle:

https://www.pexels.com/de-de/foto/luftbildfotografie-einer-personengruppe-9827

Willst du mehr darüber wissen?

Im November erscheint mein Buch „Wer leben will, muss fühlen – ein Weg aus Burnout und Panik zurück in ein erfülltes Leben“, in dem ich mehr von mir teile, z.B. auch, inwiefern meine Hochsensibilität – ohne es zu wissen – ein Grund dafür war, wieso ich 2018 in eine Psychokrise aus Burnout, Angststörungen und Panikattacken gerutscht bin.

Hier kannst du das Buch vorbestellen:

https://www.edition-forsbach.de/renate-schmitt/309/wer-leben-will-muss-fuehlen

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