junger geschaeftsmann der brett mit arbeitsflussdiagramm betrachtet Kunsttherapie und Psychotherapie (nach dem Heilpraktikergesetz)

Der heimliche Erfolg eines Unternehmensworkshops oder… „Was hat ein Stift mit Gefühlen zu tun?“

April 2022: Ein Unternehmen hat zu einer innovativen mehrtägigen Fortbildung eingeladen…Ich finde mich in einer 8-köpfigen Gruppe wieder, in der sich niemand untereinander kennt – das ist natürlich von den Veranstaltern gewollt.

Der aktuelle Auftrag lautet: „Zeichnen Sie Ihre Zukunftsvisionen für unser Unternehmen auf das Flipchart.“

Nach einem kurzen Aufwärm-Smalltalk macht sich plötzlich panikähnliche Unruhe breit… Und schon sind Sätze zu hören wie: „Ich bin doch überhaupt nicht kreativ!“. „Oh Gott, ich bin total schlecht im Malen“. „Mach DU das, du kannst das bestimmt“.

Seltsamerweise macht sich in mir auch eine unangenehme Nervosität breit – Bauchkribbeln, meine Gesichtsmimik verzerrt sich intuitiv zu einem abwehrenden Stirnrunzeln…
Nach einem kurzen Moment der Besinnung auf diese aufkommenden Gefühle (ich ahne, dass sie wieder aus irgend einer unbewussten „vorsteinzeitlichen“ Erfahrung herrühren) schaffe ich es, die Situation ganz objektiv für mich einzuordnen…

Innerlich monologisiere ich: „Ja, klar, siehste, da ist wieder diese Angst, von den anderen bewertet, ausgelacht oder beschämt zu werden – wie früher bei Herrn U. (meinem verhassten Bio- und Chemielehrer).“

Nach einigen energiegefüllten Minuten geschieht plötzlich etwas Faszinierendes…: Die Kollegin aus der Verwaltungsabteilung nimmt als erste ihren Mut zusammen, steht auf und ergreift den dicken Stift. Sie beginnt die Form eines Gebäudes auf das Flipchart zu zeichnen… Dabei erwähnt sie beiläufig, dass ihr Bruder Architekt sei und sie deshalb – mehr schlecht als recht – zumindest den Grundriss eines Hauses auf das Papier bringen könne.

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„Aha“ stelle ich fest, „…darin fühlt sie sich offenbar sicher. Damit kann sie aus ihrer Sicht nichts falsch machen, weil es vermutlich jedem in dieser Runde gelingen würde, ein paar Rechtecke oder Kreise zu zeichnen.“

Die Frau versäumt es jedoch nicht, ihr Handeln mit einer selbstkritischen Bemerkung weiter zu kommentieren: „Ich krieg´ wieder mal keinen geraden Strich hin“. Dennoch hört sie nicht auf zu zeichnen…minutenlang…der Stift scheint sie beinahe in eine Art Flow hinein zu führen…es folgen Wellenformen (ein Schwimmbad), ein Tisch, Stühle, sogar Bäume.

Ihr Malfluss wird erst gestoppt, als sich – offenbar durch die mutige Kollegin angespornt – ein bärig-bärtiger Mann mit tatoo-geschmückten Armen – erhebt. Dieser Kollege entstammt dem Werkstattbereich und bringt ein weiteres Gebäude mit Säge, Schraubenschlüssel und Werkzeug an die Papierwand.

Meine Faszination wird stärker… Nun stehe auch ich auf und bringe einen Strichmännchen-Rollstuhlfahrer ein, doch nicht ohne meine innere Stimme sagen zu hören: „Hoffentlich weiß hier niemand, dass ich Kunst als Hauptfach hatte. Mist, eigentlich müsste ich das besser können…Naja…“

Im Minutentakt wechseln drei dicke Filzstifte 24 Erwachsenenhände (eine Person hat sich in der Zwischenzeit zwei weitere Farben aus der Nachbar-Gruppe organisiert, weil sie „bunter“ malen wollte). Und somit entstehen nach und nach weitere wundervolle Gebilde: noch mehr Rollstuhlfahrer, tanzende Männchen, blühende Bäume mit einer Hängematte, eine Bühne mit Lautsprechern, Musikinstrumente, eine Katze, ein Maulwurf… Sie alle wirken auf mich wie Zeichen aus einem Akt der Befreiung, zumindest für ein klitzekleines Zeitfenster von 25 Minuten…

Obwohl dieser magische Gruppen-Moment nach Ablauf des Timers wieder in sich zusammenzufallen scheint (um sich vermeintlich „wichtigeren“ Aufträgen zu widmen…), fühle ich mich zutiefst beglückt und – wie so oft – bestätigt:

Malen und Kunst löst EINERSEITS eine Bandbreite an Erfahrungen aus, deckt innere Blockaden auf und holt die tiefsten, ältesten und unbewusstesten Gefühle aus uns Menschen hervor.

ANDERERSEITS kitzelt es auch das Bedürfnis heraus, diese spontan aufkommenden Gefühle der Angst, der Scham, des Lustempfindens für diesen einen kostbaren Moment einfach zu fühlen, dabei negative Empfindungen mutig auszuhalten und sie letztlich dadurch zu überwinden.

Am Ende des Workshops hat sich längst ein breites Grinsen in mir ausgebreitet. Unvermittelt ist mir in diesem Moment wieder meine ganz eigene bescheidene Vision und Mission bewusst geworden:

„Ich möchte mehr Menschen dazu ermutigen, sich über das Malen und Gestalten ihren Gefühlen und dadurch ihren eigenen Bedürfnissen und auch Stärken anzunähern… Und ich wünsche mir, dass sie an dieser Herausforderung wachsen und dadurch ihr Selbstwertgefühl stärken können.“

Für mich selbst ziehe ich daraus ein heimliches Fazit: Vor den Augen der engagierten Moderatoren – und im eigentlichen Sinne des gewünschten Unternehmensfortschritts – war diese kreative Übung nur eine unter vielen Aufträgen. Im lauten großen Ganzen einer 150-köpfigen Kollegenschaft hat diese sicherlich auch ihren Teil zum Gesamterfolg des Workshops beigetragen.

Doch eigentlich war es noch VIEL MEHR als das:

Für einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war es nämlich ihr ganz eigener stiller Erfolg, ihr persönlicher Triumpf…, eine spontan aufkommende unangenehme Empfindung, eine herausfordernde Situation, ein Scham- oder Angstgefühl bewältigt zu haben…

Gibt es für Geschäftsführende etwas Wertvolleres, als mutige und selbstbewusste Menschen in ihrem Betrieb zu beschäftigen, die letztlich aus einer ureigenen tief empfundenen Freude und Motivation FÜR das Unternehmen arbeiten?

Kann es eine Vision mit mehr Erfolgsversprechen geben?!

 

Titelbild von yanalya auf freepik.com

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